👻 Sprich mit deinem Körper

Die Oberlippe

Annette steht vor einer Seminargruppe und gibt einen Vortrag. Sie wirkt sehr souverän. Was sie sagt, ist gut aufbereitet. Ihr Blickwinkel auf das Thema ist spannend. Kurzum: Es macht Spaß, ihr zuzuhören. Gemeinsam mit sechs weiteren angehenden Dozent*innen für wissenschaftliche Kommunikation sitze ich hier im Publikum. Dieser Übungsvortrag ist Teil der Ausbildung und Annette erhält im Anschluss Feedback aus der Gruppe.

Doch bevor wir ihr sagen können, wie stark das Gerät war, beginnt sie schon selbst zu reden: „Boah, das war so schlimm. Immer wenn ich nervös bin, dann zittert meine Lippe sich total bescheuert aus. Und jetzt gerade auch wieder. Das habt ihr jetzt alle gesehen. Ich weiß echt nicht, was ich da machen soll. Das ist jedes Mal so, das nervt mich so mega.

Während Annette spricht, gucken wir uns alle gegenseitig an und stellen fest: Das hat niemand von uns wahrgenommen. Keiner von uns hat auch nur ein einziges Zucken auf ihrer Lippe gesehen. Was für sie die gesamte Wahrnehmung ihres Vortrags bestimmt hat, war für uns komplett unsichtbar und fiel uns gar nicht auf.

Welche Symptome?

Über welche Symptome sprechen wir eigentlich? Wir können die körperlichen Symptome in unterschiedliche Kategorien unterteilen. Diese Liste ist von Metzing & Schuster (2018) übernommen und leicht angepasst.

Allgemeine Unruhe, Übererregung: überbetontes Bewegen der Arme oder Hände, hektische Bewegungen, Fahrigkeit, Spielen mit Gegenständen, Zittern, Zittern am ganzen Körper, Rededrang, Augenlidzucken, Steif­ werden, wie versteinert sein, zittrig unsicheres Gehen, Schwächegefühle, Herumtorkeln, Schlafstörungen.

Magen-Darm-Beschwerden: Bauchschmerzen, Übelkeit, Durchfall, Erbrechen, Bauchkrämpfe, Appetitlosigkeit.

Kreislaufbeschwerden und Atmung: Herzklopfen, Schwindel, Blässe, erhöhte Körper­temperatur, Fieber, Schüttelfrost, Herzflattern, Herzrasen, Schwächeanfall, kurze oder längere Ohnmacht, Bluthochdruck, niedriger Blutdruck.

Funktionsverluste: keine Konzentrationsfähigkeit, körperliche Lähmungen, Schlaflosigkeit, Sprachverluste, nur noch langsam oder stotternd oder ohne gute Grammatik reden können, unzusammenhängend reden, Blackout, Erinnerungsverluste, nicht mehr lesen können, selbst einfachste Fragen nicht mehr beantworten können, veränderte Stimme, nur leise reden können, Pausen, verzögerte Reaktion, wie in Trance sein, Tagträume, Verwirrung.

Symptome, die von anderen leicht bemerkt werden können (soziale Signale): Erröten (am Hals erröten, roter Kopf, rote Flecken) Ausschlag, verstärkte Neurodermitis, Blässe, Schwitzen, Schweißausbrüche, kalte Hände.

Beunruhigende Gedanken und Fantasien: Gedanken an frühere Misserfolge, über katastrophale Folgen eines Misserfolgs, innere Bilder über den befürchteten ungünstigen Verlauf der Bewertungssituation.

Stimmungsveränderungen: Wut, Depressionen, Gefühl, in einem dunklen Tunnel zu sein, Weinen, Weinkrämpfe, Albträume, unnatürliches Lachen.

Sozialverhalten: überaggressiv, sozialer Rückzug, ständig über die eigene Angst reden.

Bevor wir weitermachen, habe ich eine gute Nachricht für dich: Viele der Symptome machst du vor allem mit dir selbst aus. Es gibt nur sehr wenige darunter, die deinem Publikum während des Sprechens auffallen. Trotzdem können sie dich und deine Performance stark beeinflussen. Lass uns deshalb schauen, woher sie eigentlich kommen. 

Genau darum geht es im Podcast „Kopfgespenster – Dein Weg aus der Redeangst“.
In 6 Folgen zeige ich dir, wie die Angst vor dem Reden entsteht, warum es zu den typischen Symptomen kommt und welche Möglichkeiten es gibt, mit der Angst umzugehen.

Sympathikus & Parasympathikus

Stell dir vor, in deinem Körper leben zwei kleine Wesen. Den ganzen Tag über diskutieren die beiden, wohin die Energie in deinem Körper fließen soll. Immer, wenn du eine stressige Situation erlebst, ist das erste Wesen für deine Reaktion verantwortlich. Wenn’s nach ihm geht, dann kämpfst du mit Worten und Fäusten gegen alle Gefahren an oder läufst ganz schnell weg, um dich zu retten. Das zweite Wesen ist scheu. Es kommt nur heraus, wenn alles okay ist. Aber wenn es rauskommt, dann gibt es all deine Energie in dein Gehirn und deinen Bauch. Es ist das gemütliche Wesen, das essen und Geschichten erzählen möchte. 

Ganz oft sind sich diese beiden Wesen einig darüber, in welchem Moment wer von den beiden das Kommando übernehmen darf. Doch es gibt auch Situationen, in denen das nicht so klar ist. 

Diese beiden Wesen gibt es so ähnlich wirklich in unserem Körper. Sie heißen Sympathikus und Parasympathikus und sind zwei Mechanismen im zentralen Nervensystem. Das zentrale Nervensystem steuert unseren gesamten Körper und je nachdem, welcher der beiden Mechanismen gerade dominiert, also welches Wesen das Steuer übernimmt, werden die Energieressourcen unseres Körpers anders verteilt.

Der Sympathikus ist auch als Kampf-oder-Flucht-System bekannt (Fight or Flight). Er wird immer dann aktiviert, wenn du dich bedroht fühlst. Wenn du durch die Steppe läufst und plötzlich ein Säbelzahntiger vor dir steht, hast du zwei Möglichkeiten: entweder du nimmst deinen Speer und kämpfst so gut du kannst, oder du wirfst deinen Speer weg und rennst, so schnell du kannst. In diesem Moment brauchst du all deine Energie in deinen Armen und Beinen und schnell verfügbaren Sauerstoff in deinem Blut. Der Körper reagiert mit allgemeiner Aktivierung: Das Herz schlägt schneller, die Atmung wird beschleunigt, es kommt zu Muskelanspannung, Ausschüttung von Hormonen, Harn- und Stuhldrang, Druckgefühlen im

Magen, Kloß im Hals, Mundtrockenheit. Du kämpfst um dein Leben.

Die dritte Option wäre, dass du dich tot stellst. Eine gewisse Angststarre resultiert aus einer zu flachen Atmung, die zu Sauerstoffarmut führt und die innere Aufregung verstärkt (eine Art „Totstellreflex“ ist am Werk; man möchte instinktiv nicht durch laute Atemgeräusche auf sich aufmerksam machen).

In diesem Zustand steht kaum noch Energie bereit für die Teile deines Gehirns, die für komplexe Denkaufgaben zuständig sind. Das Problem ist, dass dieses System immer aktiviert wird, wenn wir uns bedroht fühlen. Und für die meisten Menschen ist das Reden vor Publikum eine bedrohliche Situation. Darüber haben wir in der ersten Folge gesprochen: Redeangst ist eine Angst vor Bewertung. Es ist sehr schwierig, Fakten zu erinnern und Argumente wirkungsvoll vorzutragen, während du vor einem Säbelzahntiger fliehst. 

Wir brauchen den Parasympathikus. Der Parasympathikus ist der Gegenpart des Sympathikus und für die Energieverteilung in entspannten Situationen zuständig. Es ist das System, was deine Energie verteilt, wenn du mit deinem Stamm am Lagerfeuer sitzt und ihr euch Geschichten davon erzählt, wie ihr den Säbelzahntiger besiegt habt. In diesem Moment brauchst du deine Energie in den Teilen des Gehirns, die für komplexes Denken zuständig sind – deine kognitive Leistungsfähigkeit ist hier am höchsten. Deine Atmung wird ruhiger und tiefer, dein Puls sinkt auf deinen Ruhepuls und deine Verdauung funktioniert so, wie sie soll. Wir brauchen mehr Parasympathikus-Energie, wenn wir vor Leuten reden. Doch wie kommen wir dahin?

Ein Exkurs ins Gehirn

Wir haben keinen direkten Zugriff auf diese beiden Systeme. Um das zu verstehen, machen wir einen kurzen Exkurs in unser Gehirn. 

Unser Gehirn kann in drei Bereiche unterteilt werden. Jeder Bereich hat einige Kernfunktionen, die er übernimmt. 

Am Fuße unseres Gehirns liegt das Stammhirn, das auch als Reptilienhirn bekannt ist. Das Stammhirn steuert unsere Instinkte und unser Erregungsniveau – also wie sehr uns eine Situation unter Stress setzt. Das ist der älteste Teil des Gehirns. Den teilen wir uns mit allen Säugetieren und Wirbeltieren – deshalb auch Reptiliengehirn. 

Auf das Stammhirn folgt das Zwischenhirn. Und das beherbergt unser Angstzentrum, steuert unser Nervensystem und ist für einen großen Teil unserer Bewegungen zuständig. Das heißt, hier liegt eine enge Verbindung zwischen unseren Emotionen und der körperlichen Anspannung oder Entspannung. Und hier ist der Ort, an dem der Sympathikus und der Parasympathikus gesteuert werden. Das Zwischenhirn gibt uns vor, in welchem Aktivierungszustand wir gerade sind – also wie angespannt und konzentriert oder wie entspannt wir gerade sind. 

Zu guter Letzt folgt das Großhirn. Das Großhirn wird in zwei Hälften unterteilt, sogenannten Hemisphären. Der linken Hälfte wird nachgesagt, für die Logik zuständig zu sein, während die rechte Hälfte für die Kreativität zuständig ist. Im Detail ist das nicht ganz so einfach. Was wir uns merken sollten ist, dass im Grpßhirn das bewusste Denken stattfindet. Dieser Teil des Gehirns ist für unser kurzfristiges Überleben am unwichtigsten. Dafür können wir mit dem Großhirn mathematische Gleichungen lösen, Gedichte entwickeln und Pläne schmieden. Das Großhirn ist am aktivsten, wenn der Parasympathikus, also unser Schmatz-und-Denk-System aktiviert ist.

In der Praxis sind die verschiedenen Hirnareale natürlich komplex vernetzt. Ein komplexer Zustand wie Angst oder der Kampf-oder-Flucht-Reflex  finden in allen Bereichen des Gehirns statt. 

Sehr gut, jetzt wissen wir, dass in unserem Gehirn jeder Bereich eigene Funktionen hat. Und wenn unser Angstzentrum im Zwischenhirn sitzt, müssen wir doch nur noch dort ansetzen und eine Lösung finden. So einfach ist es leider nicht. Wir haben leider keinen bewussten Zugriff auf unser Stammhirn und unser Zwischenhirn. Beide Bereiche des Gehrins arbeiten vorbewusst oder unbewusst und können nur indirekt beeinflusst werden. 

Wörter und Logik spielen hier eine untergeordnete Rolle. Das hat einen einfachen Grund, den wir uns gut merken müssen: Ein Problem in einem Hirnareal kann nicht auf einer anderen Ebene gelöst werden. Das heißt, wir können keine Verhaltensmuster, die unser Zwischenhirn oder unser Stammhirn gespeichert hat, durch logisches Denken in unserem Großhirn lösen. Wir müssen auf die Areale einwirken, in denen die Reaktion geändert werden soll.

Die meisten von uns beeinflussen ihr Stammhirn zum Beispiel jeden Tag mit Koffein durch Kaffee oder Tee. Damit verändern wir den Erregungszustand unseres Stammhirns und fühlen uns wacher – oder in den meisten Fällen vor allem nervöser. Doch es geht auch anders.

Power Poses?

Vor einigen Jahren kursierte der Begriff “Power Posing” durch die Kommunikations-Workshops. Die Neurowissenschaftlerin Amy Cuddy hat diesen Begriff geprägt. Die Theorie dahinter ist ganz simpel: Wenn der Körper auf Emotionen mit Hormonausschüttungen reagiert, die dann ein bestimmtes Verhaltensmuster unserer Muskeln auslösen, dann müsste man das doch auch umdrehen können. Also die Muskeln im Körper in eine Formation bringen, die wir mit einer positiven Emotion verbinden und darauf setzen, dass unser Körper dann auch die entsprechenden Hormone ausschüttet und uns wirklich in diese Emotion versetzt. Mittlerweile ist umfangreich nachgewiesen, dass dieser Zusammenhang existiert.

Amy Cuddy ist noch einen Schritt weiter gegangen und hat kulturübergreifende “Power Poses” identifiziert – Körperhaltungen, die auf der ganzen Welt für Erfolg stehen. Diese Power Poses sind umstritten und ich möchte sie an dieser Stelle nicht weiter besprechen. Was wir aber mitnehmen können, ist der Umkehrmechanismus: wenn wir unserem Körper über unser Verhalten signalisieren, welche Stimmung wir anstreben, reagiert unser Gehirn nach einer gewissen Zeit und sendet die passenden Botenstoffe aus. 

Wir können auf indirektem Weg über Entspannungstechniken, Atemtechniken und Visualisierungen Einfluss nehmen. Lass uns jeden dieser Ansätze einmal genauer anschauen.

Dieser Artikel ist der erste von insgesamt 6 Artikeln, begleitend zum Podcast. Sie sollen dir eine Orientierung zur Selbsthilfe geben. Ich zeige dir das weite Feld der Möglichkeiten auf, die uns im Umgang mit Angst zur Verfügung stehen. Dabei gibt es kein Patentrezept – Redeangst kann aus ganz unterschiedlichen Gründen und Erfahrungen entstehen, zeigt sich in völlig unterschiedlichen Symptomen und ist in hohem Maße von der individuellen Persönlichkeit abhängig. Deshalb kann es passieren, dass eine Methode der einen Person sehr gut hilft und bei einer anderen Person komplett wirkungslos ist.
Wenn du feststellst, dass du an einem bestimmten Punkt allein nicht weiterkommst, schreib mir eine Nachricht an post@erikfandrich.com.

Entspannungstechniken

Ich finde den Begriff Entspannungstechniken am Anfang sehr irreführend. Er suggeriert, dass es hier nur darum geht, die Spannung herauszunehmen. Dabei haben wir ja bereits darüber gesprochen, dass gesundes Lampenfieber uns in eine produktive Anspannung versetzt. Mein Vorschlag: Wir denken bei Entspannungstechniken jetzt immer an Balancetechniken. Und die sollen die richtige Balance zwischen Anspannung und Entspannung herstellen.

Langfristig gesehen tragen Yoga, Meditation, Autogenes Training, Tai Chi und viele weitere Sport- und Meditationsformen dazu bei, auf unser Nervensystem einzuwirken. Die Voraussetzung ist aber, dass wir dauerhaft und konstant am Ball bleiben. Der Langzeiteffekt stellt sich im Laufe der Zeit ein, setzt aber Geduld voraus. Deshalb ist es klug, sich etwas auszuwählen, das sich gut anfühlt. Dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass du aus deinem Training eine Routine machen kannst. Ich habe in den herausforderndsten Zeiten viel meditiert und mich im autogenen Training versucht. Für den Einstieg empfehle ich dir, dir in deiner Podcast-App begleitete Meditationen oder Anleitungen für eine progressive Muskelentspannung (kurz PMR) oder  zum autogenen Training zu suchen. Aus heutiger Sicht würde ich zusätzlich noch einen Ausdauersport oder Yoga ergänzen. Am Ende musst du hier selbst herausfinden, was für dich funktionert. 

So viel zur langfristigen Strategie. Lass uns noch darauf schauen, was du tun kannst, wenn du schon morgen reden musst. 

Stell dir vor, du hältst in wenigen Stunden einen Vortrag in einem Seminar. Vor dir sind noch circa 3 weitere Vorträge dran und die willst du natürlich hören. Du sitzt im Publikum, merkst aber ganz schnell, wie du immer unruhiger wirst. Natürlich lässt du dir das nicht anmerken – immerhin willst du professionell wirken, oder zumindest nicht peinlich. Dir wird warm, du beginnst zu schwitzen und es fällt dir schwer, wirklich zuzuhören. Wie sollst du das jetzt noch 2,5 weitere Vorträge lang aushalten?

Wann immer wir aufgeregt sind, sorgt der Sympathikus dafür, dass unser Körper mit Adrenalin geflutet wird. Erinnere dich an die Kampf-oder-Flucht-Situation: Adrenalin hilft dir dabei, die nötige Energie freizusetzen und die Muskeln schnell und kraftvoll einzusetzen. Wenn du stattdessen still sitzen bleiben musst, kommt es zu einem “Adrenalin-Stau”. Dein Körper ist hoch aktiviert aber kann das Adrenalin nicht einsetzen. Was jetzt ganz einfach hilft, ist Bewegung. Denn durch Bewegung wird Adrenalin abgebaut – dein Körper und du, ihr nähert euch wieder einem gemeinsamen Aktivierungslevel an. 

In der Praxis kann das ein Spaziergang oder Workout vor der Veranstaltung sein. Aber wenn wir ehrlich sind, machen wir das nicht. Deshalb hier ein paar alltagstaugliche Adrenalin-Burner für akute Situationen: 

  1. Kurzes Dehnen und Stretchen der Arme, Beine und des Oberkörpers. Das kann ein Räkeln auf dem Platz sein oder ein kurzes Dehnen auf dem Klo – das klingt komisch, aber es hilft. 
  2. Mini-PMR: PMR steht für progressive Muskelrelaxation. Klingt kompliziert, bedeutet aber lediglich, dass du einzelne Muskelgruppen ganz bewusst anspannst und dann ganz bewusst locker lässt. Das kannst du unauffällig auf deinem Stuhl machen. Spann deine Oberschenkel so fest an, wie du kannst und halte die Spannung für mindestens 5 Sekunden. Danach lässt du die Spannung los und spürst ihr kurz hinterher, d.h., du fokussierst dich auf das Gefühl in deinen Oberschenkeln, wenn sie entspannt sind. Das kannst du wiederholen und auf andere Muskelgruppen übertragen. Zum Beispiel deine Waden, deine Füße, deine Arme, deinen Bauch oder deine Schultern. 

Beide Methoden sorgen dafür, dass das überschüssige Adrenalin aus deinen Muskeln abgebaut werden kann. 

Atemtechniken

Der zweite Punkt ist die Atmung. Unsere Atmung spielt eine große Rolle im Alltag, nimmt aber vergleichsweise wenig Platz in unserer Aufmerksamkeit ein. Wir können auch hier den Weg also umdrehen: zuerst konzentrieren wir uns auf die Atmung und unser Körper fährt das Kampf-oder-Flucht-System herunter und das Schmatz-und-Denk-System hoch. 

Es gibt auch ein verstärktes, „kampfvorbereitendes“, kräftiges Atmen (Hyperventilation), das nach einiger Dauer zu Übelkeit und Ohnmacht führt, sodass manchmal – allein durch die heftige Atmung – Panik auftritt. Unser Ziel ist es in Angstsituationen, uns dem parasympathischen System, also dem Schmatz-und-Denk-System anzunähern. In diesem Zustand haben wir eine ruhige und tiefere Atmung.

Eine der einfachsten Methoden ist das Rundatmen: Dabei atmest du tief in den Bauch ein und langsam wieder aus, ohne in der Atembewegung zu stoppen. Nach jedem Atemzug wartest du drei Sekunden, bevor du mit dem nächsten beginnst. In den drei Sekunden kannst du eine Affirmation denken, also einen inneren Vorsatz. Das kann eine Form des Glaubenssatzes aus der letzten Folge sein: “Ich werde mein Bestes geben”. Oder es kann sich direkt auf die Ruhe beziehen, wenn dir das hilft: “Ich bin ruhig und entspannt”. Diese Methode solltest du nicht länger als 2 Minuten anwenden.

Eine Alternative ist die 3-5-7-Methode. Bei der atmest du 3 Sekunden ein, hältst deinen Atem 5 Sekunden an und atmest dann 7 Sekunden lang langsam wieder aus. Das Ausatmen ist an dieser Stelle besonders wichtig. Wir tendieren dazu, bei Anspannung mehr ein- als auszuatmen.

Es gibt zahlreiche Atemtechniken, die du probieren kannst. Alle basieren auf einer tiefen Bauchatmung und haben oft eine Aufmerksamkeitskomponente enthalten, zum Beispiel die Atemzüge zu zählen. Das soll dabei helfen, sorgenvolle Gedanken zu stoppen und sich auf etwas anderes zu konzentrieren. 

Wenn du dich so richtig herausfordern willst, dann versuch doch mal, deine Atemzüge zu zählen, ohne dabei an etwas anderes zu denken. Immer, wenn du an etwas anderes denkst, beginnst du von vorn. Ich bin bei dieser Übung noch nie weiter als bis zu fünf Atemzügen gekommen. 

Visualisierungen

Zum Schluss kommen wir zum Dritten Ansatz: der Visualisierung – also dem bildlichen Vorstellen einer Situation vor dem inneren Auge. Damit können wir zwei Ziele verfolgen. Wir können uns vorstellen, wie wir eine Situation so richtig gut meistern, also mit Erfolg abschließen, um dann in der Realität auch erfolgreicher zu sein. Oder wir können uns eine Umgebung vorstellen, die uns beruhigt, uns wohlfühlen lässt und uns so halt auch in der Realität beruhigt.

Beruhigende Bildvorstellungen tauchen ganz häufig auch in Meditationsübungen auf. Manchmal werden sie dort auch Kraftort genannt. Für viele ist das irgendwie eine Art von Naturlandschaft, in der es irgendwie harmonisch wirkt, die einem Kraft gibt. Und das kann eine sein, die man wirklich kennt, in der man schon war. Also ein realer Ort. Oder es kann auch eine völlig frei erfundene Fantasielandschaft sein. Wichtig ist nur, dass sie dieses Gefühl auslöst, diese Geborgenheit. Also ob du jetzt eine Bergwiese wählst oder ein See, ein Gebirge, ist vollkommen dir überlassen. Das Gute ist, wenn man gewohnt ist, sich diese Bildvorstellungen zu visualisieren, also zum Beispiel durch Meditation geübt hat, dann kann man die auch in akuten Angstphasen in öffentlichen Räumen, im Publikum, ganz kurz abrufen. So für 2 bis 5 Minuten und sich damit sehr schnell runter regulieren.

Das andere Ziel, eine Situation zu visualisieren, die Erfolg symbolisiert, die wird auch ganz oft im Sport genutzt, beispielsweise um den Streckenverlauf und die Reaktionen darauf vorher zu trainieren, bevor man wirklich diese Bahn fährt. Oder auch in der unterstützende Behandlung bei Knochenbrüchen. Wenn du dir schon mal was gebrochen hast, dann wirst du das kennen. Wenn man sich ein Bein bricht und deshalb das Bein für sechs Wochen lang nicht mehr belasten kann, dann bildet sich die Muskelmasse zurück. In Studien konnte man zeigen, dass der Rückgang der Muskelmasse verlangsamt werden kann, wenn sich die Patientinnen ihr Krafttraining, also ihr Beintraining, visualisieren. Das liegt daran, dass unser Gehirn auch auf Bilder reagiert, die wir uns nur vorstellen, also die wir von innen heraus erzeugen.

Was wir ganz häufig machen, ist, dass wir uns Schreckensszenarien ausmalen, also uns überlegen, was alles schief gehen könnte, wie schlimm die Situation wird, wie wir uns blamieren, wie alles peinlich wird, wie wir ausgelacht werden und wie wir nie wieder mit irgendwem im Publikum reden können. Also, indem wir uns klassische Kopfgespenster ausmalen. Und das ist natürlich auch besonders einfach, wenn die Situation zum Ersten Mal kommt. Also wenn wir noch nie in der mündlichen Prüfung waren, dann können wir uns natürlich alles Mögliche darunter vorstellen, eben auch alles Mögliche, Schreckliche.

Was genau wir tun können, um unbekannte Situationen trotzdem vorzubereiten, darauf möchte ich im nächsten Artikel eingehen. An dieser Stelle ist nur wichtig, dass wir auch hier wieder das Schreckensszenario austauschen können, indem wir den Mechanismus zu unseren Gunsten umdrehen.

Zum Beispiel, indem wir uns visualisieren, wie wir diese Situation bestmöglich meistern, also wie wir mit guter Laune und flüssig einen Vortrag halten oder in einem Meeting überzeugen, wie wir leicht und mit lauter Stimme vor der Gruppe stehen und Applaus erhalten, nachdem wir fertig sind. Das sind Bewältigungsvorstellungen und die können wir auch ganz konkret machen. Annette zum Beispiel aus der Eingangsgeschichte könnte sich hier überlegen, wie sie ohne jegliches Zittern und Zucken in jedem Körperteil ihren Vortrag zu Ende bringt.

Diese Bewältigungsvorstellungen können sich auf ganz konkrete Zeichen und Anzeichen auf konkrete Symptome beziehen. Wenn also zum Beispiel deine Hände zittern beim Reden, dann stellst du dir vor, wie du mit mit klaren Gesten und mit völlig ruhiger Hand deine Bewegungen machst. Auch bei diesen Visualisierungen kommt es darauf an, sie regelmäßig zu machen. Also sich die Situation einmal auszumalen, wird nicht ausreichen. Stattdessen brauchen wir auch hier wieder den Vorlauf. Wir müssen über einen längeren Zeitraum immer wieder mal in diese Visualisierung gehen. Und zwar allein deshalb schon, weil wir uns auch selbst davon überzeugen müssen, dass das eben kein Quatsch ist, sondern dass die Situation genauso gut gut ausgehen kann, wie sie in unserer Angst schlecht ausgehen könnte.

Am allerbesten funktioniert natürlich die Vorbereitung, wenn du alle drei Ansätze parallel nutzt. Also wenn du über Entspannungstechniken, über Atemtechniken und über Visualisierung deinem Nervensystem signalisiert Diese Situation ist eben nicht so bedrohlich, wie der Sympathikus es im ersten Moment erwartet. Wir müssen verstehen, dass unser Körper über diese Symptome, über diese Reaktion mit uns spricht.

Also nicht du hast Herzrasen und Bauchschmerzen, sondern dein Körper signalisiert dir mit Herzrasen und Bauchschmerzen, dass diese Situation potenziell bedrohlich ist und dein Körper möchte dir durch diese Symptome die mögliche Energie zur Verfügung stellen, aus dieser Situation zu fliehen. Dein Körper kommuniziert nonverbal mit dir. Gerade diese Distanz zwischen dir als Entscheider*in und dem Körper kann dir dabei helfen, dir die Kontrolle zurückzugeben. Und dann kannst du bewusst darauf Einfluss nehmen, deinen Sympathikus zu beruhigen.