👻 Die Abwärtsspirale der Angst

Der Friseurbesuch

Es ist 2012, das Jahr, in dem alle vom Mayakalender und dem vorhergesagten Ende der Welt gesprochen haben. Meine Welt endete schon im Jahr davor. Durch eine persönliche Krise bin ich in eine tiefe depressive Episode gefallen. Nach gut einem Jahr in diesem Loch stand ich am Anfang meiner Rückkehr in mein Leben: Ich wollte mein Abitur nachholen.

Zu meinen Vorbereitungen darauf gehörte auch ein Friseurbesuch. Und das war eine Herausforderung. Was für die meisten total banal wirkt, war für mich damals ein Riesending. Ich habe soziale Ängste entwickelt. Hier ganz konkret: Die Angst davor, mit der Friseurin zu reden. Zu dieser Zeit hat mich jede Redesituation sehr viel Energie gekostet. Selbst Gespräche mit Freunden oder Familienmitgliedern. Und besonders dann, wenn ich irgendwas von irgendwem haben wollte – bloß nicht zur Last fallen halt.

Ein durchschnittlicher Friseurbesuch stellt viele kleine soziale Hürden für Personen, die soziale Ängste haben. Es beginnt bereits mit der zu leisen Begrüßung beim Hereinkommen, gefolgt von der Beschreibung dessen, was man haben will. Wenn man im Vorfeld lang genug darüber nachdenkt – also die Situation komplett zerdenkt – dann gibt es plötzlich unzählige Wege “Haarschnitt” zu sagen. 

Es folgt das Warten darauf, aufgerufen zu werden. Was macht man in der Zeit? Wartet man allein oder mit anderen? Wie vermeidet man möglichst den Augenkontakt mit allen anderen? Was ist jetzt gerade angemessenes Verhalten und was nicht? 🤷 Irgendwann kommt dann der furchtbar erlösende Aufruf: “Der Nächste, bitte”

Für einen kurzen Moment wird die Situation leichter, denn jetzt läuft alles nach dem sozialen Protokoll, auf das wir uns stumm mit unseren Friseur*innen geeinigt haben. Wir beschreiben den Haarschnitt, gefolgt von ein paar klärenden Rückfragen. Doch wenn das Schneiden beginnt, öffnet sich das Tor zur persönlichen Hölle aller, die Redeängste haben: der Smalltalk beginnt. 

Glücklicherweise versandet das Gespräch schnell, denn mit meinem Angstkopf bin ich gar nicht in der Lage zu sprechen. Ich antworte mit trockenem Mund, viel zu leise und kaum verständlich. Das ist mir unendlich peinlich. Deshalb ist mir auch egal, wie der Haarschnitt am Ende aussieht. Hauptsache ganz schnell bezahlen und mit der Blamage aus dem Salon fliehen.  

Diese Situation war für mich so unangenehm, dass ich manchmal direkt vor der Tür des Friseursalons entschieden habe, lieber doch nicht reinzugehen und straight daran vorbeigelaufen bin. Das kam häufiger vor als ich zugeben möchte.

Es gibt viele Menschen, denen es ähnlich geht. Dabei müssen die Auswirkungen nicht immer so intensiv und deutlich sein. Manchmal ist es auch nur ein leichtes Lampenfieber – aber manchmal eben auch mehr. Und um dieses mehr geht es in meiner Arbeit. Diesem mehr habe ich in einen 6-teiligen Podcast namens “Kopfgespenster” gewidmet. Und um dieses mehr geht es in meinen Texten, Vorträgen und Workshops.

Never say Lampenfieber

Lampenfieber – was meinen wir damit eigentlich? Der Begriff Lampenfieber geht uns im Alltag so locker über die Lippen, dass wir selten darüber nachdenken, was wir damit eigentlich meinen. Lampenfieber ist zu einem Sammelbegriff geworden. Von einer kleinen Nervosität bis zur lähmenden Angst, kann der Begriff alles meinen. 

Lass uns genauer auf das Wort Lampenfieber gucken: Da steht jemand im Licht einer Lampe – den Scheinwerfern der Bühne – und bekommt “Fieber”. Also die Hitze steigt in den Kopf und der Schweiß läuft über die Stirn. Der Bauch kribbelt. Das Denken wird schwerer. Automatismen setzen ein. Wir bringen das Ganze über die Bühne.

Mit dem Verlassen dieser Bühne sinkt das “Fieber” ab. Allmählich beruhigt sich das Nervensystem und damit verschwinden auch die schwitzigen Hände und das flaue Gefühl im Magen. 

Ich weiß nicht, wie es dir geht. Aber wenn ich so richtig Angst vor dem Reden hatte, dann hatte ich nie das Gefühl, nur Lampenfieber zu haben. Lampenfieber wirkt viel harmloser als das, was in mir vor sich ging. Was ich empfunden habe, war Angst. Lähmende Angst, die schon Tage zuvor einsetzte. Ich konnte nicht mehr essen und schlief wenig und unruhig. Ich war gereizt und konnte mich nicht gut konzentrieren. Auch von außen hat man mir die Angst angesehen: An meiner angespannten Mimik und Körperhaltung. An meinem schlechten Hautbild. Und hatte ich die Situation erst einmal überstanden, setzte keine Erleichterung ein. Dann begann das Ausschlachten meiner Erinnerungen an die Redesituation, um auch noch die letzte Kleinigkeit zu finden, die peinlich gelaufen ist. Das war mehr als Lampenfieber.  

Bevor wir uns mit den Ursachen und unseren Handlungsmöglichkeiten auseinandersetzen, müssen wir die Begriffe sauber voneinander abgrenzen: 

  • Lampenfieber ist die ganz normale körperliche Aktivierung, die uns in erhöhte Leistungsbereitschaft versetzt.
  • Redeangst ist ein komplexer Angstzustand, der unsere körperliche und mentale Leistungsfähigkeit reduziert.

Lampenfieber gibt uns die Energie, die wir beim Reden brauchen, um zu überzeugen. Dieses Gefühl haben die meisten Menschen, wenn sie auf die Bühne gehen. Diese leichte Angst hält das Bewusstsein wach und aktiviert alle Kräfte des Körpers. Lampenfieber ist das Signal des Körpers, dass alle Systeme auf Hochtouren laufen. Dass die Aufgabe wichtig ist und dafür Energie bereitgestellt wird. Lampenfieber hilft dabei, zu performen. Und ganz ehrlich, solange der Auftritt glatt läuft, es anschließend Applaus und Zuspruch gibt, ist doch eigentlich schon längst vergessen, wie unangenehm wir uns vorher gefühlt haben, oder?

Redeangst steht auf einem ganz anderen Blatt. Sie setzt früher ein, zeigt sich stärker und bleibt länger. Sie macht unsere Leistung schlechter, weil sie sich vielfältig auf die Psyche und den Körper auswirkt. Am deutlichsten zeigt sich das, wenn wir schon vorher tagelang nicht richtig schlafen oder essen können. Wenn sich jeder Gedanke nur noch um die Präsentation, den Vortrag oder das Meeting dreht. Wenn der Bauch weh tut, die Verdauung nicht mehr funktioniert und der Puls rast. Dann sprechen wir von Angst. Und die sollten wir nicht mit dem Begriff Lampenfieber verharmlosen. 

Angst muss beim Namen genannt werden.

Angst muss beim Namen genannt werden. Angst muss gesehen werden. Erst dann kann sie verschwinden. Und verschwinden bedeutet in diesem Fall nicht, dass sie einfach weg ist. Es bedeutet, dass sie kontrollierbar wird und sich in eine produktive Energie umformt.

Genau darum geht es im Podcast „Kopfgespenster – Dein Weg aus der Redeangst“.
In 6 Folgen zeige ich dir, wie die Angst vor dem Reden entsteht, warum es zu den typischen Symptomen kommt und welche Möglichkeiten es gibt, mit der Angst umzugehen.

Funktioniert Selbsttherapie?

Dieser Artikel ist der erste von insgesamt 6 Artikeln, begleitend zum Podcast. Sie sollen dir eine Orientierung zur Selbsthilfe geben. Ich zeige dir das weite Feld der Möglichkeiten auf, die uns im Umgang mit Angst zur Verfügung stehen. Dabei gibt es kein Patentrezept – Redeangst kann aus ganz unterschiedlichen Gründen und Erfahrungen entstehen, zeigt sich in völlig unterschiedlichen Symptomen und ist in hohem Maße von der individuellen Persönlichkeit abhängig. Deshalb kann es passieren, dass eine Methode der einen Person sehr gut hilft und bei einer anderen Person komplett wirkungslos ist.

Alle Methoden sind für sich genommen wirksam und können nur ausprobiert werden. Also: hab den Mut, auch Methoden zu testen, die dir im ersten Moment seltsam vorkommen – vielleicht ist es genau das, was dir hilft. Aber scheu dich auch nicht davor, Methoden abzulehnen, die dir nicht helfen oder sich einfach nicht richtig anfühlen. Richtig ist hier, was dir hilft. Ich stelle dir auch Methoden vor, die in der Psychotherapie angewendet werden und die du allein durchführen kannst. Redeangst kann durch Selbsttherapiemaßnahmen, Beratungen und Workshops deutlich besser werden. Mach dir aber bewusst, dass das keine Psychotherapie ersetzt.

Wenn du feststellst, dass du an einem bestimmten Punkt allein nicht weiterkommst, schreib mir eine Nachricht an post@erikfandrich.com.

Woher kommt die Angst vor dem Reden?

Stell dir vor, du stehst mit deinem Clan in der steinzeitlichen Steppe. Das Leben hier ist hart und du bist auf deine Clan-Mitglieder angewiesen. Heute ist dein großer Tag, denn du hast eine geniale Idee, wie du und deine Clanmitglieder mehr Mammutfleisch in eure Höhle transportieren könnt. Du stellst dich also in die Mitte der Gruppe, ganz nah ans Lagerfeuer, und beginnst zu sprechen. Du stellst dem Clan deine Idee von einer runden Steinplatte vor, in die du ein Loch gemacht hast, um einen Stock durchzustecken. So lässt sich das ganze Konstrukt rollen! 🤯 Unvorstellbar, wie viel Mammutfleisch wir damit von A nach B transportieren können! Du guckst in die Gesichter der anderen und wartest auf den Applaus… doch du bist leider ein paar Jahrhunderte zu früh dran. Dein Clan entscheidet sich, dich auszustoßen – denn offensichtlich bist du verrückt. Viel Erfolg beim Überleben in der Wildnis! 🍀

Die Angst vor dem Reden ist natürlich. Denn sobald wir den Mund aufmachen, gehen wir das Risiko ein, einen schlechten Eindruck zu hinterlassen. Anders gesagt: von anderen bewertet zu werden. In der Psychologie spricht man deshalb von Bewertungsangst, die der Angst vor dem Reden zugrunde liegt. 

Auch wenn die Konsequenzen heute nicht mehr so fatal sind, wie in der Steinzeit, ist die Angst vor der negativen Bewertung durch andere etwas Alltägliches. Prüfungsergebnisse können sich auf unser weiteres Leben auswirken, Präsentationen dazu führen, spannendere Projekte im Job zu bekommen – oder nicht – und selbst auf der Straße ist es uns wichtig, von anderen als selbstbewusst oder attraktiv eingeschätzt zu werden. Kurzum: Wer dazugehören will, muss gut ankommen. 

Wir wissen, dass wir bewertet werden – immer und überall. In den meisten Fällen passiert das ohne jede böse Absicht. Die Bewertung hilft uns dabei, durch den Alltag zu navigieren und im endlosen mehr Möglichkeiten, das auszuwählen, was zu uns passt. Die Bewertung von anderen und durch andere ist also eine Art von sozialem Filtersystem. Und weil es eben dieses Meer an Möglichkeiten gibt und wir immer in Gruppen sein können und in der Masse untergehen können, ist es besonders herausfordernd, dann aus der Gruppe herauszustechen, sich auf eine Bühne zu stellen und das Wort zu ergreifen.

Wer keine Angst vor Bewertungssituationen hat, der hat womöglich nicht verstanden, um was es dabei geht.

Metzing & Schuster (2018)

Die Angst vor solchen Situationen ist vollkommen normal und zum Teil auch eine notwendige Reaktion. Denn „normales“ Lampenfieber, diese leichte Angst, stellt uns genügend Energie zur Verfügung, um überzeugender aufzutreten. Durch diese Aktivierung werden wir leistungsfähiger und fokussierter. Und damit erhöhen wir die Chancen, mit dem bestmöglichen Ergebnis aus der Situation herauszugehen.

Erst wenn unsere Angst vor der Bewertung so groß wird, dass sie sich in einer Redeangst ausdrückt, wird dieser Mechanismus destruktiv.

Die Abwärtsspirale der Angst

In meinen Beratungen und Workshops hat sich immer wieder gezeigt, dass der Umgang mit der Bewertung durch andere maßgeblich davon abhängt, welche Erfahrungen eine Person gemacht hat. Eine Person, die in der Vergangenheit gelernt hat, dass sie für vorgetragene Ideen Zustimmung bekommen hat, blickt der Bewertungssituation häufig deutlich entspannter entgegen. Ganz anders ist es, wenn eine Person genau das Gegenteil erlebt hat. Ich spreche dabei von der Abwärtsspirale der Angst

Ganz oft gibt es in den Biographien derjenigen, die Angst vor dem Reden haben, eine erste negative Erfahrung. Das kann zum Beispiel ein Vortrag in der Schule sein, bei dem man sich, warum auch immer, völlig verhaspelt hat, ausgelacht wurde und mit hochrotem Kopf und einem völligen Blackout abbrechen musste. Der Gedanke “Ich kann nicht reden” hat Fuß gefasst. Das Selbstbild “Ich kann nicht reden” formt sich. Wenn die betroffene Person eh schon ein geringes Selbstwertgefühl hat, kann diese eine Erfahrung den geringen eigenen Wert bestätigen und zu einer großen Selbstwertkrise beitragen. Das Besondere dabei ist, dass von außen eben nicht zu erkennen ist, welche Situationen sich als negative Referenzerfahrung einbrennen oder welche locker weggesteckt werden. Das hängt von so vielen individuellen Faktoren ab, dass man es von außen einfach nicht sagen kann.

Noch immer voller Scham und von Grund auf verunsichert von dieser Erfahrung, ist die Person überzeugt davon, nicht reden zu können. Und weil wir nur unser eigenes Erleben der Situation und der Angst kennen, können wir nur schwer vergleichen, ob die Angst bei anderen auch so groß ist. Also, ob sie “normal” ist. Zu der Angst vor der Präsentation kommt dann auch noch die Angst vor der Angst: weil sich die Angstattacke besonders schlimm anfühlte, sie sich wie ein Kontrollverlust anfühlte und das eigene Denkvermögen krass eingeschränkt war.

Es ist dann viel sicherer, sich vor weiteren Redesituationen zu drücken. Dadurch können allerdings auch keine neuen, im besten Fall positiven Erfahrungen gemacht werden. Die Angst bleibt unverändert bestehen. Das neue Verhalten, die Redesituationen zu vermeiden, wird zum Teil des ganz normalen eigenen Verhaltens – zu einer Gewohnheit. Im schlimmsten Fall breitet sich diese Gewohnheit aus und es werden immer mehr Situationen vermieden, die so ähnlich sind. Zum Beispiel Telefonate oder schwierige Einzelgespräche, eventuell sogar das Bestellen im Restaurant usw. 

Doch eines Tages kommt diese eine mündliche Prüfung, der eine obligatorische Vortrag oder die unausweichliche Kundenpräsentation. Und mit ihr die aufgeschobene Vorbereitung bis auf den letzten Drücker oder in anderen Fällen die penible Vorbereitung – oft aber auf jeden Fall die schlaflosen Nächte, viel zu viel Kaffee und ein immer weiter steigendes Stresslevel – das genaue Gegenteil von der Verfassung, in der wir in einer Redesituation gut performen können. Sobald die ersten körperlichen Symptome einsetzen – schwitzige Hände, Herzrasen – wird die Angst immer stärker. Sehr wahrscheinlich entsteht dann die nächste negative Erfahrung, die die Bestätigung dafür liefert, nicht reden zu können. 

Dieser Kreislauf verfestigt das Selbstbild von uns als schlechte Rednerin oder schlechter Redner mit jeder Umrundung immer weiter. Das hat reale Konsequenzen, die über das individuelle Leid hinausgehen. Vielleicht wählen wir einen Job lieber nicht, um Redesituationen zu vermeiden. Oder gehen lieber nicht für unsere Überzeugungen auf die Bühne.

Die gute Nachricht: Wenn wir diese Abwärtsspirale der Angst erkannt haben, gibt es Wege hinaus. Und im besten Fall schaffen wir es, sie in die andere Richtung zu bewegen. In dem wir uns mit der eigenen Angst beschäftigen – auch wenn es schmerzhaft ist. In dem wir zu neuen Glaubenssätze über unsere Redefähigkeit finden. Und in dem wir erste positive Erfahrungen sammeln, die uns sagen lassen: “Hey, vielleicht kann ich doch reden – zumindest in dieser oder jeder Situation”. Angst muss direkt adressiert werden. Ansonsten bleibt sie. Und dann trauen wir uns auch die nächste Präsentation zu oder lassen uns zumindest darauf ein. Und Schritt für Schritt verfallen wir weniger in die Stresssituationen und ersetzen schlechte Angewohnheiten mit guten. Und vielleicht schaffen wir es irgendwann sogar, die Angst als Energiequelle zu nutzen und Spaß daran zu haben, unsere Ideen vor anderen zu präsentieren.